Tante
Waltrud und allgegenwärtige Eskimos
Stellen Sie
sich vor, Sie waren zwei Wochen lang geschäftlich in Sierra-Leone
gewesen. Sie fliegen zurück über Paris und wollen dort noch
ein Paar Tage lang ihre Geschäfte koordinieren. Und plötzlich
- das Wort ist bei solchen Begebenheiten eminent wichtig - treffen Sie
in der Stadt ihre geliebte Tante aus Toronto, die Sie zum letzten Mal
vor zehn Jahren gesehen hatten. Sie umarmen die überrasche Dame und
sagen begeistert: "Tante Waltrud! Was machst Du denn da?! Was für
ein Zufall!"
Ich habe keine Tante in Toronto, dafür aber einen Onkel in Wladiwostok.
1992 kam ich aus Freetown, Sierra-Leone für einen dreitägigen
Zwischenstopp nach Moskau. Dieser Moloch Urbanovich war damals ein einziger
Inbegriff von Chaos. Und da traf ich ihn zufällig auf einer
Treppe, den Helden meiner Kindheit, den sagenumwobenen Seemann, den Kapitän.
Ich rief entzückt: "Onkel Kira! Zehn Jahre! Unglaublich! Was
machst Du in Moskau?" Und er fragte mich: "Weißt du von
Nichts?" Was ich nicht wusste, war Folgendes: Meine kerngesunde Mutter
erkrankte plötzlich und starb. Morgen, sagte er, Begräbnis.
Meine Eltern lebten damals auf der Krim, am Schwarzen Meer und alle
Flüge gen Süden waren mittejulimäßig ausverkauft.
So flogen wir nach Odessa und fuhren weitere sechshundert Kilometer mit
Taxi. In der Morgendämmerung kamen wir an - vier Stunden vor der
Bestattung.
Unter uns Kriminologen, wenn es in einer wichtigen Sache mehr als nur
einen Zufall gibt, dann ist das gar kein Zufall. Man könnte natürlich
Alles auch experimentell überprüfen. Arrangieren Sie einfach
ein Wiedersehen mit der Tante Waltrud: Sie soll im Laufe der nächsten
zehn Jahren kurzfristig entschieden in irgendeine Großstadt
fliegen. Zwei Monate davor buchen Sie auch einen Flug in irgendeine
Stadt, gehen auf irgendeine Strasse in irgendein Cafe und warten
fröhlich auf die Tante Waltrud. So simple ist das. Darwin sagt, das
funktioniert, man muss nur stur bleiben. Wenn's nicht klappt, wiederholen.
Zehnfach, tausendfach, milliardenfach.
Ich sage Ihnen, wir brauchen keine Milliarde von Städten, das funktioniert
nicht mal mit einer einzigen Stadt. Sie kommen niemals aus all diesen
Längen, Breiten und Kontinenten zufällig auf drei Quadratmeter
und fünf Sekunden Raumzeit zusammen. Wir unterschätzen die unermessliche
Komplexität des Lebens und hypnotisieren uns mit den vergleichsweise
völlig lächerlichen Zahlen. Das ist dieser kleine alte Schwindel:
"Können Sie sich eine Milliarde vorstellen?" Wie bitte,
nicht mal eine Million? Na sehen Sie, und eine Milliarde ist noch tausendmal
größer! Hier geben auch die Ungläubigsten auf: Na gut,
bei so vielen blinden Versuchen entsteht vielleicht DNA oder eine neue
Tierart oder die Tante Waltrud.
Diese auch mathematisch gesehen absolut defekte Erwägung verfehlt
ihr Ursprüngliches Ziel um genau 180 Grad. Auch wenn ihr familiäres
Treffen auf diesem Wege zustande käme... Das wäre doch kein
Beweis für eine funktionierende Methode der Treffen-Organisierung.
Nein, so was funktioniert als eine Methode eben nicht.
Lassen wir die naive Einbildung, das Universum entstünde zufällig,
kurz beiseite und betrachten den Komplexitätsgrad - sagen wir - des
Eiweißes. Eine normale Ferment-Kette kann etwa 200 Glieder mit jeweils
20 Verbindungsmöglichkeiten enthalten. Würden sich die Aminogruppen
zufällig zusammenfügen, hervorriefe dies eine unvorstellbare
Menge von nutzlosen Verbindungen, mehr als die Zahl aller Atome in allen
Galaxien, und das nur für ein Ferment. Davon gibt es aber über
2000 Arten. Es gibt Schätzungen, um allein die Zusammenfalten-Kombinationen
einer einzigen Aninosäuren-Kette zu berechnen, bräuchte ein
modernes Supercomputer 1027 Jahre. Das eigentliche Problem der
Darwinisten sind aber nicht die kurzen 5 Milliarden Jahren Zeitspanne
für die ganze Entwicklung aller unzähligen
Lebensphänomene. Allein die Tatsache, dass das komplizierteste Reproduktionssystem
von DNA, RNA und Eiweiß in jeder Zelle von Anfang an vollkommen
sein muss, bringt das Darwinsche Kartenhaus zum Zusammensturz.
Haben Sie übrigens unsere Naturkonstanten noch nicht vergessen? :-)
Wir brauchen eigentlich die kanonisierte Zufall-Erklärung der Evolution
schon deswegen nicht ernsthaft zu disputieren, weil sie im Grunde nie
eine war. Sie stellte vielmehr eine Negation der früheren religiösen
"Intelligenz-Erklärung" dar. Die moderne Kenntnis über
die unermessliche Komplexität der lebendigen Materie entzog dieser
veralteten Science-Fiction endgültig jede Argumentationskraft. Intelligenzlose
Evolution - und das betrifft nicht nur die Biosphäre - kann grundsätzlich
nicht funktionieren.
Noch ein Blick auf meine persönliche Geschichte. Ich habe sie Ihnen
brav chronologisch erzählt, in der Reihenfolge meiner Erfahrungen.
Widerstehen wir noch einmal der angeborenen Versuchung, Geschehnisse in
diese Richtung auch zu erklären. Dann ersparen wir uns all die
verbalen Überbrückungskabel wie "plötzlich",
"unvermittelt", "überraschend", "auf einmal",
"unvermutet"... Der Kern der Geschichte ist denkbar einfach:
Wir beide, Kira und ich, waren beim Begräbnis seiner Schwester und
meiner Mutter dabei. Genau das war die Ziel-Ursache unserer Begegnung
in Moskau. Das Treffen war kein glücklicher Umstand, aus welchen
wir keine philosophischen Schlüsse ziehen dürfen, auch kein
unerwartet gelungenes Aufeinanderprallen zweier mit unwahrscheinlicher
Präzision aus großer Entfernung geschossener Atome. Es war
eine einfache contrachronologische Folge des Dabei-Seins.
Das sage ich jetzt. Jahrelang davor habe ich allerdings das Wort "Zufall"
gekaut und dadurch jegliches Reflektieren effektiv blockiert. Das ist
normal, lebende Beobachter ignorieren eben hartnäckig das beste Forschungsmaterial
überhaupt, ihr eigenes Leben. Ein Beobachter durchkämt stattdessen
unbeugsam alle Wüsten seines wissenschaftlichen Weltbildes. Mitten
in diese würdenvolle Betätigung platzt dann ein Gedanke über
einen bestimmten Freund. In 10 Sekunden ruft dieser plötzlich
an. "Ha!" findet der Beobachter, denkt aber einen anderen Gedanken
nicht durch. Den über eine mögliche Irrelevanz seines monumentalen
Weltbildes angesichts dieses banalen Anrufs. Beim Abendessen überlegt
er, warum sein Kollege Dr. Paradigma die Problematik der kognitiven Dissonanz
im modernen Behaviorismus so hochschaukelt... "Übrigens,- unterbricht
ihn seine Frau unvermittelt - ich habe gestern in der Stadt deinen
netten Kollegen Herrn Paradigma gesehen. Ein komischer Name. Ist er ein
Inder?" "Nein",- sagt der lebende Beobachter und verspürt
gar keine kognitive Dissonanz.
Das Dilemma des lebenden Beobachters ist beinahe magischer Art: Egal was
in sein Bewusstsein dringt, auf dem inneren Weltbildschirm läuft
immer nur "Casablanka". Es ist erstaunlich, wie sicher und blitzschnell
der menschliche Verstand alle inkongruenten Informationen gleich am Eingang
abfängt und wegsperrt.
Ich habe früher für unterschiedliche Gruppen Konzentration -und
Gedächtnistraining unterrichtet. Um die Funktionsweise der Vernunft-Filtern
zu illustrieren, habe ich eine Eskimo-Erzählung verwendet, die der
britische Psychologe Sir Frederik Bartlett für eine Gedächtnis-Studie
benutzt hatte. In dieser Kurzgeschichte begleitet ein Jüngling von
Egulac eine Geisterschar auf einem Kriegszug und kämpft auch mit.
Dann sagen die Geister, er sei getroffen und bringen ihn zurück ins
Dorf. Der Jüngling verspürt keinen Schmerz und erzählt
allen Leuten von der Geisterschlacht. "Als aber die Sonne aufging,
fiel er tot um. Etwas Schwarzes quoll aus seinem Mund."
Ich kündigte trügerisch eine Gedächtnisübung an und
las diese mystische Geschichte unter vier Augen einem Kursteilnehmer vor.
Seine Aufgabe war es, alles aufzunehmen und dann einem Anderen möglichst
textgetreu nachzuerzählen. Der Nächste gab dies genauso weiter
und als die Kette von ca. zehn Personen durch war, trug der Letzte seine
Endversion der Gruppe vor. Das war also keine "Stille Post",
akustische Filter waren nicht im Spiel, sehr wohl aber mentale. Am Ende
blieb immer ein mehr oder weniger exakter militärischer Bericht und...
keine Spur von den Geistern. Dabei heißt die Erzählung "Krieg
der Geister", es handelt dabei um ziemlich mysteriöse Ereignisse
und die Aufgabe lautete: "Wahrnehmen, nicht interpretieren."
Wir haben uns jedes Mal den Geistern auf die Spur begeben, um festzustellen,
wann werden diese Informationen ausgeschaltet. Sie wurden in der Regel
schon von den ersten fünf Teilnehmern nach und nach ausgefiltert.
Und warum? "Weil es keine Geister gibt". Unser kollektives Gehirn-Modell
funktionierte also einwandfrei, Nichts dem Weltbild inkongruentes kam
durch. Auf der Leinwand lief immer weiter der alte Film. Auch Bartlett,
der nicht mit den Gruppen, sondern individuell arbeitete, berichtet, nach
zwei Wochen konnte keine der Versuchspersonen sich mehr an die Geister
erinnern.
Nun, die Natur darf zwar mittlerweile wieder die Leere ertragen, meinen
manche Wissenschaftler. Aber nicht unsere mentale Natur, meine ich. Wenn
die Geister verschwinden, was letztendlich ihrer Natur ganz und gar entspricht,
muss doch ein Ersatz her, die Schlacht hat doch laut Berichterstattungen
stattgefunden. Wissen Sie, wer da in der Endversion anstatt der Geister
kämpfte? "Eskimos", natürlich... Diesen "Eskimos"
begegnen wir immer und überall. "Plötzlich" ist zum
Beispiel ein "Eskimo". Oder - "auf einmal". Aber auch
unzählige renommierten Worte. Wissen Sie was Schwerkraft ist? Ich
sage es Ihnen, Schwerkraft ist auch ein Eskimo. Ich nehme es dem alten
Kosmomechaniker nicht übel, dass er einen wirklich schwer verdaulichen
Begriff radikal verkürzte. Nämlich den Begriff "Wir-wissen-alle-nicht-WIE-die-Erde-Äpfel-anzieht-aber-wir-nennen-es-ab-jetzt-Schwerkraft".
Einfach "Schwerkraft" ist sicherlich praktikabler. Sir Newton
hat auch nicht behauptet, er habe das Phänomen irgendwie erklärt.
Er hatte es benannt, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.
Wir sind übrigens auch heute noch im Verständnis dieses Phänomens
ungefähr an der Stelle, wo Newton vor dreihundert Jahren gestartet
hat. Unter anderem auch deswegen, weil wir das Wort "Schwerkraft"
zum Eskimo gemacht haben. Es erklärt zwar nichts, es ersetzt
aber glatt eine Erklärung, es bedeckt das Loch im Weltbild, es blendet
das Rätsel vollkommen aus.
Gregory Bateson sagt, das Wort "Instinkt" ist eine Art Black
Box, ein Erklärungsprinzip, womit man alles erklären kann, was
man nur will. Das stimmt, Instinkt ist auch ein ausgeprägter Eskimo.
In voller Länge heißt der Begriff "Alles-was-wir-im-Verhalten-der-Lebewesen-nicht-weiter-ergründen-können-nennen-wir-Instinkt".
Oder schnappen wir den Begriff "Wir-haben-keine-Ahnung-wie-die-Koizidenzen-zustande-kommen-und-nennen-das-Zufall",
besser unter "Zufall" bekannt. Der ist ein ganz auffälliger
Eskimo.
Ich glaube, es entsteht langsam der falsche Eindruck einer antiwissenschaftlichen
Ironie. Dann klären wir die Sache! Nicht nur die Wissenschaft bedient
sich der altbewährten Methode der Naturvölker, die bedrohliche
Unfassbarkeit der Natur durch das Benennen der Kräfte virtuell zu
strukturieren, vertrauter erscheinen zu lassen, semantisch auszutauschen.
Nicht nur sie. Die ganze menschliche Sprache als solche ist ein
totaler Ersatz, ein Megaeskimo. Sie täuscht vor, ein Abbild der Realität
zu sein. In der Tat ist sie aber ein Surrogat der Realität, eine
eigenständige parallele Wirklichkeit. Ich werde irgendwann früher
sagen, die Sprache sei eine gefrorene Realität, doch dies reicht
nicht aus: In erster Linie ist sie eine erfundene Realität.
Der Realitätsersatz Sprache erzeugt in uns das überlebenswichtige
Gefühl, die Welt zu kennen und zu verstehen. Vertraute Sprachbegriffe
- stellvertretend für reale Erscheinungen - kreisen uns um. Durch
das Benennen ersetzen wir zwar weitgehend das Verstehen der Phänomene,
legitimieren aber zumindest ihre Existenz in unserer Denkensart, erteilen
denen sozusagen eine befristete Aufenthaltsgenehmigung fürs Großhirn.
Die Alternative ist das bloße Nicht-Benennen und sie ist überaus
wirkungsvoll. Sie schafft alles Unbenannte schlichtweg aus dem Weltbild,
macht Phänomene kaum wahrnehmbar und oft auch wachstumsunfähig.
Wenn es in der deutschen Sprache kein Wort für - sagen wir - "samadhi"
gibt, dann kann sich samadhi in unserer Ecke nur sehr mäßig
verbreiten. Oder könnte man zwar das altchinesische "wu-wej"
als etwa "energiegeladener Zustand des äußeren
Nicht-Handelns" oder als "handlungslose Wirkungsweise des reinen
Seins" übersetzen. Aber bringt uns das einen einzigen Bit weiter?
Wenn wir die sechs Sanskrit-Worte für unterschiedliche Bewusstseinszustände
mit jeweils drei Sätzen (Kommentare nicht miteingerechnet) übersetzen
müssen, können wir dann in diesen Begriffen auch denken?
Nein, das ist wie einem Ausländer eine Anekdote zu erzählen,
dreifache Arbeit mit dezimiertem Sinn: Man trägt den Witz vor, lacht
kurz und einsam, dann erklärt man mühevoll, warum der Witz so
lustig war, beantwortet ein paar Fragen, lacht noch mal ermutigend und
denkt: "Scheiße...".
Man übersetzt "djihad" hartnäckig als "heiliger
Krieg" nicht nur der breiten Blauäugigkeit zuliebe. Vielmehr
ist es das übliche Problem - die richtige Übersetzung ist entweder
lang oder erklärungsbedürftig. Sie ist also kein Begriff, sondern
eine Beschreibung. Sie passt kaum in die Rasterfahndung des Verstandes,
sie ist unbequem für das Denken. Ich habe gerade im Wörterbuch
nachgelesen, wie das russische Wort "Petschal" ins Deutsche
übersetzt wird. Es gibt nämlich keine Petschal in der deutschen
Mentalität, genauso - und ich behaupte, zum Großteil - weil
es in der deutschen Sprache kein Wort dafür gibt. Petschal ist ein
Gefühl der Traurigkeit, das hell, ausgewogen und positiv ist. Petschal
ist ein wenig philosophisch und sogar angenehm, hat aber mit Masochismus
nichts zu tun. Es ist keine Melancholie, keine Trauer, kein Gram, kein
Frust, keine Langeweile. Aus deutscher Sicht ein undifferenzierter und
unbedeutender Zwischenzustand also. Aber... Sie werden sich vielleicht
wundern, wenn ich Ihnen sage: Für einen Russen ist zum Beispiel der
positive Sinngehalt des deutschen Wortes "sparen" auch ein schwer
nachvollziehbarer Hirngespinst. Die Schnittmengen in der Begrifflichkeit
der Sprachen schrumpfen in den etwas feineren Materien manchmal auf Null.
Ich denke, man kann sich die Sprache als eine Art Gitternetz vorstellen,
als einen Raster, der für unseren Verstand gewisse "magnetische"
Eigenschaften aufweist. Der Sprachmuster formt in den frühen Stadien
des menschlichen Lebens die Gedankenstrukturen und die Wahrnehmungsgewohnheiten.
Ein Kind verspürt Petschal, findet aber in der Sprache keine unterstützende
Frequenz für dieses Gefühl, keine Ausdrucksmöglichkeit,
keinen Anker. So verfestigen sich bevorzugt die Nachbarzustände "Melancholie"
und "Traurigkeit", die sich auf die existierenden tragenden
Worte beziehen.
Solche Feinheiten sind allerdings sekundär, sie veranschaulichen
aber sehr gut die musterbildende Wirkung der Sprache auf das Mentale.
Jetzt abgesehen von den Differenzen zwischen hochbayerisch und umgangsanskritisch
stellen wir heraus: Die Gesamterscheinung Sprache veranlasst uns dazu,
unsere Weltanschauung in weitgehendem Einklang mit der Gesetzmäßigkeiten
der Sprache zu gestalten. Das heißt:
• ganzheitliche Phänomenprozesse in Objekte und Handlungen
virtuell zu splittern, wie die Sprache das vorschreibt,
• Denkmatrix auf dem Prinzip der Linearität aufzubauen, gleichartig
mit der Sprachstruktur,
• Ursachenfindung der chronologischen Kausalität unterordnen,
kongruent mit dem Sprachverlauf.
Das Gesamtphänomen
Sprache befindet sich in einer intensiven Wechselwirkung mit dem Wahrnehmungskomplex
des Gehirns. Beide zusammen gestalten nicht nur unsere "Virturealität",
sondern bilden den eigentlichen Gerüst der Raumzeit.
1989 verfasste ich im Auftrag eines Sozial-Psychologischen Zentrums eine
Studie über die Kreativitätssteigerungs-Methoden in Forschungsorganisationen.
Damals habe ich zum ersten Mal verblüfft festgestellt, dass die effektivsten
dieser Techniken keineswegs die Vernunft-Mechanismen aktivisieren. Im
Gegenteil, sie versuchen auf unterschiedlichste Art und Weise den Verstand
zu blockieren, auszutricksen und die verrücktesten Ideen
aufzufangen. Sei es Brainstorming, Synektik, Reizwortanalyse oder Progressive
Abstraktion, es geht im Grunde immer nur darum, die Gesetze geschickt
zu brechen, möglichst schwere Beute zu machen und der Verkehrskontrolle
zu entkommen.
Bemerkenswert finde ich es, dass alle Kreativitätstechniken zwar
das ausgefahrene Straßennetz der Vernunft verlassen und geländewagenmäßig
in die unzugängliche Gebiete vorstoßen, streben dabei aber
nicht, sich von der Mutter Sprache abzuheben. Der einzige mir
bekannte Versuch, einem Kreativitäts-Jeep die Sprachflügel einzubauen,
startete Edward DeBono 1967 mit seinem "Lateralen Denken". Das
bedeutet nach DeBono, bewusst "um die Ecke zu denken", unlogisch
und unkonventionell. Eine seiner Techniken verwendet das neue (und wohlklingende)
Wort PO als Einleitung für provokative Denkoperationen. PO signalisiert
eine Feststellung außerhalb des Urteilssystems und - brillant -
auch abseits der Gesetzmäßigkeiten der Sprache.
PO bezeichnet irgendeine unmögliche Lösung oder Ansicht des
Problems, z.B., "PO: Fabriken müssten flussabwärts von
sich selbst liegen". Solche mentalen Provokationen können neue
und außergewöhnliche Seiten von Problemen beleuchten, indem
sie die Suchenden auf kuriose Aspekte der Fragestellung hinweisen. Das
laterale Denken bringt vortreffliche Ideen und Problemlösungen, sie
ist aber im Unterschied zu anderen Techniken nicht an sich lösungsorientiert.
Benutzen Sie also für nützliche Zwecke lieber praxisbezogene
Methoden: Mindmapping zum Konzipieren eines raschen Geldvermehrens oder
Brainstorming zur Legalisierung antiterroristischer Flächenbombardements...
Apropos Bombardements: Laut einer Gallup-Umfrage genießen die Streitkräfte
weltweit - auch in Deutschland - das höchste Vertrauen der Bevölkerung
unter allen Institutionen. Nein, diese uneingeschränkte
Solidarität ist jetzt kein Indiz für den Jammer menschlicher
Vernunft, sondern ein ehrlicher Hinweis auf die umfassenden Verdienste
der Kriegsmaschinerie für die Menschheit. Dem guten Militär
verdanken wir nämlich nicht nur die Erfindung des Internets, sondern
auch die des Speed Reading. Sie haben sicherlich schon mal von dieser
Technik des schnellen Lesens gehört, auch "Querlesen" genannt.
Es gibt davon mehrere Methoden, die es ermöglichen, die Grenze von
400 Wörter pro Minute zu brechen und das Doppelte, Dreifache oder
Mehr zu erreichen. Angefangen mit alledem hat Royal Air Force während
des Ersten Weltkrieges. Sie konzentrierten sich damals auf die Beschleunigung
des visuellen Erfassens mit Hilfe von Tachitoskop, einer Sorte
Urbeamer. Erst Jahrzehnte später setzte sich die Erkenntnis durch,
dass der Mensch nicht mit den Augen, sondern mit dem Hirn liest. Und dort
gibt es gewisse Verständnisvorgänge.
Von den Nuancen abgespeckt, lässt sich die Verständniskette
beim Lesen folgendermaßen darstellen: Sehen - subvokalisieren -
zuhören - verstehen. Subvokalisation ist das rudimentäre innere
Mitsprechen, das aus den Zeiten des Lesenlernens stammt und bei den Erwachsenen
als minimale Kehlbewegungen beibehalten bleibt. Obwohl wir die Subvokalisation
kaum merken, beschränkt sie unmissverständlich unsere Lesegeschwindigkeit.
Daher kommt diese Grenze von etwa 400 Wörter pro Minute - das ist
das höchstmögliche Sprechtempo (zumindest für ein Männchen),
wo das Gesprochene noch einigermaßen artikuliert und auch verstanden
werden kann (wenn es darauf ankommt). Wir verstehen also das Gelesene
erst wenn wir uns Alles selbst "zugeflüstert" hatten.
Eine der Methoden des schnellen Lesens unterdrückt die Subvokalisation
mittels eines speziellen Rhythmus. Später kommt das Ausschalten der
zwei mittleren Stationen der Verständniskette und der Direktanschluss
"Sehen - Verstehen". Mit der darauf folgenden Blickfelderweiterung
ist dann die alte Grenze bereits aufgehoben. Soweit die Theorie.
Im echten Leben beginnt ab jetzt die interessanteste Phase. Ich habe zuhause
eine alte Videoaufnahme: Als unser Sohn Victor anderthalb Jahre alt wurde,
haben wir aus seinem Kinderbett die Sicherheitsstäbchen entfernt
und ich fing an zu filmen, wie er freudetrunken aus dem ehemaligen "Gefängnis"
herausspringen würde... Das Show blieb aus: Er stand händeringend
in geöffnetem Bett und eine halbe Stunde lang forderte uns auf, ihn
rauszuholen. Er sah zwar das veränderte Bett, aber er wusste nur
zu genau - hier kann er nicht durch, das geht einfach nicht. Es war eine
seltene Erfahrung, direkt zu sehen, wie unabhängig die Grenzen im
Kopf von den physischen Barrieren existieren können.
Speed Reader haben in diesem Stadium also mit einer viel härteren
Grenze als die des eigenen Sprechtempos zu tun. Die gemütliche Einbahnstrasse
des Denkens und die kolossalen Sprachsäulen der Weltanschauung sollen
ab jetzt ignoriert werden. Ganzer auf chaotische wird Textblöcken
Sprachgesetze eklatanter als die gegen ein empfunden Blick Verstoß
nichtlineare die zunächst Aufnahme einen. Mit denselben Worten, die
nichtlineare chaotische Aufnahme ganzer Textblöcken auf einen Blick
wird zunächst als ein eklatanter Verstoß gegen die Sprachgesetze
empfunden. Der Verstand weigert sich, die Informationen in einer "falschen"
Reihenfolge als Informationen anzuerkennen.
Das schnelle Lesen ist ein relativ intensiver Bewusstseinszustand. Ich
habe Menschen erlebt, die schon im Vorzimmer in Panik gerieten, und Menschen,
die dadurch massive befreiende außerzeitliche Erfahrungen gesammelt
haben. Pro oder Contra scheint davon abhängig zu sein, wie stark
sich die Betroffenen über ihren eigenen Verstand definieren. Auf
jeden Fall beansprucht die Intensität des ausweiteten Wahrnehmungsfensters
eine hohe Energieinvestition. Das allein reicht aus, um den Siegeszug
dieser vielversprechenden Technik zu zügeln. Außerdem läuft
man beim Abheben von der Mutter Erde immer das Risiko ein, zu erfahren,
dass sie nicht die einzige tragende Realität ist. Ab gewisser Geschwindigkeit
und Höhe - sogar, das der Planet des Denkens selbst ein kleines dynamisches
Element eines unermesslich komplexeren Systems darstellt. Für
viele Menschen könnte dies einen bösen Zusammenbruch ihres Weltbildes
bedeuten.
Der Menschenverstand bezeichnet sich selbst sehr oft und sehr gerne als
"gesund". Was würden sie sagen, wenn ihre liebe Verwandte
eines Tages anfängt, sich so vorzustellen: "Ich bin die gesunde
Tante Waltrud aus Toronto."? Ich persönlich würde sagen,
die Tante ist ganz in Ordnung, hat Selbstvertrauen, Optimismus, eine Siegertypin
sozusagen. "Ich bin OK, Du bist OK..." Es ist für uns nun
mal überlebenswichtig, dass unser Verstand sich in dieser Welt als
gesund und tauglich empfindet. So ganz abwegig ist es ja auch nicht. Es
kommt schließlich auf die Definition der Gesundheit an.
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