Bauen mal contrachronologisch

Ich sitze jetzt und schreibe diesen Text in einem Haus, das 1969 gebaut worden ist. Ich frage mich: Warum haben sie damals überhaupt damit angefangen? Haben vielleicht Sie, verehrter Leser, diesbezüglich eine Idee?

War der Grund dafür Bausucht? Investitionsdrang? Obdachlosigkeitsscheu? Oder ein unbändiges Verlangen, etwas Rechteckiges zu vollbringen? Ich spekuliere jetzt nicht, ich lenke Sie nur ab. Natürlich habe ich eine Erklärung, die radikal genug ist, um ernsthaft unter die Lupe genommen zu werden.

Die Ursache des Bauvorgangs ist im ersten Satz bereits erwähnt worden: Fertigstellung des Hauses im Jahre 1969. Damit will ich sagen, dass der Bau 1968 begonnen wurde, weil das Haus 1969 bereits fertig war. Und nicht umgekehrt.

Es gibt ein Gegenargument, welches lautet: Das geht nicht, weil ein späteres Ereignis immer die Folge und keineswegs Ursache eines Früheren ist. Dies wird als eine Selbstverständlichkeit angesehen, die einen primären existenziellen Charakter zu besitzen scheint. Und dennoch ist sie deduktiv. Sie beruht auf einigen Annahmen, die wiederum gewöhnlich für axiomatisch gehalten werden.

Eine davon besagt, dass unsere im Gehirn konstruierte Realität sich mit der eigentlichen "äußeren" Wirklichkeit im Wesentlichen überschneidet. Mit anderen Worten, dass unsere Sinnesorgane ihre speziellen Wahrnehmungen ins Gehirn transportieren, woraus dann unser Denkorgan eine realitätsgetreue Abbildung des Universums erstellt.

Diese Annahme - "die Welt ist so, wie wir sie empfinden" - fungiert auch als eine unabdingbare Grundlage jeglicher wissenschaftlichen Forschung. Denn ohne Verlass auf eine weitgehende Identität zwischen Welt und gehirnproduziertem Weltbild wäre aller empirischen Erkenntnis der Boden weggezogen...

Diese Annahme, dass unser Wahrnehmungsapparat keine interpretierende, sondern eine widerspiegelnde Funktion erfüllt, wird in der heutigen etablierten Wissenschaft überwiegend selbstverständlich und sogar unbewusst vorausgesetzt. Allerdings ist es klüger, Annahmen nicht mit Tatsachen zu verwechseln. In diesem Fall handelt es sich eindeutig um eine Annahme, die sogar prinzipiell nicht beweisbar ist. Denn alle wissenschaftlichen Informationen inklusive alle möglichen Messdaten über die Sinnesorgane bekommen wir letztendlich über dieselben Sinnesorgane.

Die zweite wichtige Annahme ist unser Verständnis der Zeit. Es ist in unserem Kulturkreis üblich, dass die Zeit als eine absolute und objektive Dimension des Universums betrachtet wird. Zwar hat Albert Einstein versucht, daran zu rütteln und auch die Zeit zu relativieren, doch durch seine theoretische Verschmelzung der Zeit mit dem Raum in ein vierdimensionales Kontinuum verfestigte er eher den Eindruck einer vermeintlichen Objektivität der Zeit.

Abgesehen davon wird die Zeit nach wie vor meistens im Newtonschen Sinne verstanden, nämlich als eine absolute tragende Kraft, die "von sich aus und gemäß ihrem Wesen gleichförmig und ohne Rücksicht auf irgendwelche äußeren Dinge" fließt. Dieser Fluss der Zeit finde in einem ebenso absoluten und unabhängigen Raum statt.

Dass wir meistens heimliche Newtonisten sind ist natürlich und psychologisch gut begründet. Wir hängen seiner mechanistischen Vorstellung nicht aus Dummheit nach. Sie ist einfach eine klare und schöne Welterklärung. Und das Wichtigste dabei: Sie ist im Gegensatz zu Einsteins Kaugummi eine harte "Absolutitätstheorie", und auch eine gnadenlose Objektivitätstheorie. Einstein lockt uns, aus dem graniten Bunker in sein vierdimensionales Zelt umzuziehen, doch kaum jemand macht das. Ich übrigens auch nicht, denn meiner Meinung nach existieren weder Bunker noch Zelt außerhalb des Schädels.

Wenn wir plötzlich wieder beim Thema Bauwesen sind, wird jetzt ein Stein (ein getrennt geschriebener) ins gläserne Haus des vulgären Chronologismus geworfen. Das oben erwähnte Gebäude, in dem ich diese Zeilen gerade schreibe, wurde also 1969 gebaut und 1968 geplant. Betrachten wir mal den ganzen Bauvorgang Schritt für Schritt rückwärts...

Das fertige Haus verliert zunächst all sein Dekor, seinen Putz und fällt dann langsam aber unaufhörlich auseinander: Das Dach rutscht ab, die Wände zerspringen, das Fundament verschwindet... Je weiter wir in die Vergangenheit schreiten, desto luftiger und abstrakter wird das Gebäude. Es entmaterialisiert sich. Für eine Weile existiert es noch auf dem Papier, dann entfernt der Architekt mit seinem spitzen Bleistift alle Linien darauf. In seinem Kopf werden schnell alle Umrisse nebliger und unschärfer, bis das Projekt sich auf ein Vorhaben vereinfacht. Dann springt es in den Kopf des Auftraggebers und zerschmilzt dort nach ein paar Jahren endgültig. Unser Haus hat aufgehört zu existieren. Amen.

Wenn wir in die Zukunft schauen, erscheint uns alles so subtil und wolkenweich. Wenn wir aber Dinge aus der Zukunft in Richtung Vergangenheit betrachten, dann sind sie ... auch zunehmend abstrakt und unbeständig. Ist das interessant!

Jetzt der versprochene (Ein)Stein. Wahrscheinlichkeit ist ein tragendes Prinzip aller deterministischen Erklärungen und somit ein fester Bestandteil unserer chronologischen Ursachenfindung. In der Regel setzt man den Wahrscheinlichkeitsbohrer zukunftsgerichtet ein. Wir drehen ihn jetzt aber um und schauen verblüfft in das Zeitloch...

Die Wahrscheinlichkeit, dass das fertige Haus vorher gebaut und noch früher geplant wurde ist hundertprozentig. Jene Wahrscheinlichkeit dagegen, dass das geplante Haus gebaut wird ist niedriger als hundert Prozent. Viel niedriger.

Diese Verschiedenheit des Bindungscharakters ist qualitativ. Das Projekt ermöglicht lediglich das Haus. Das Gebäude dagegen bedingt das Projekt, determiniert es unausweichlich. Genauso ist es mit Abstand wahrscheinlicher, dass ein fertiges Haus die Ursache eines Projekts ist, als umgekehrt.

Das ist so einfach und so eindeutig, dass man zunächst an Schwindel denkt. Zugegeben, aus unserem gewöhnlichen Zeitverständnis ist diese Schlussfolgerung eine platte Provokation. Aus einem anderen ist sie aber wahrscheinlich bis wahr.

Worauf ich hinaus will: Es ist schlicht unmöglich, unser Zeitkonzept zu prüfen, wenn wir alles ihm Inkongruente von Anfang an ausblenden. Das Gegenteil ist notwendig: Für unsere Expertise gehört das Zeitkonzept aus dem Kopf auf den Tisch.

Lassen wir dies als Vorwort gelten? Das hätte auch Vorteile: In groben Zügen ist schon einiges Wichtiges skizziert worden. Und das Schlimmste ist schon hinter Ihnen, denn weiter wird immer begründeter...

 

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