Realität mundgerecht geschnitten

Es gibt keine Dinge. Es gibt außerhalb unserer Wahrnehmung keine vereinzelt existenten Dinge. Dass unser Hirn bestimmte Teile der Prozesse als Objekte erfasst, ist auf einige seiner Charakteristika zurückzuführen.

Ich werde jetzt für die nachfolgende Erläuterung einen Sammelbecken-Begriff ins Spiel bringen: "Wahrnehmungsfenster". Darunter verstehe ich vor allem einen bestimmten Rahmen, die "Größe" unserer Aufnahmefähigkeit. Natürlich ist unsere Fassungskraft veränderlich und dynamisch, dennoch hat sie Grenzen. Dieser hirneigene Winkel des "Blickfeldes" ist erheblich kleiner als die des autonom agierenden Bewusstseins. Demzufolge ist auch die Wahrnehmung unseres Denkorgans spezifisch geartet.

Das Wahrnehmungsfenster hindert uns am direkten Empfinden der Phänomenprozessen in ihrer Ganzheit. Stattdessen sehen wir alles in Objekte und Handlungen gesplittert. Das entspricht auch dem Aufbau unserer Sprache. Worte wie "Prozess", "Vorgang", "Ablauf", "Verfahren", "Bewegung" etc. beinhalten für uns keine handelnde oder sich verändernde Objekte und sind an sich auch auf kein Objekt bezogen. Es ist uns zwar mehr oder minder klar, das es so was wie "Prozess" in Wirklichkeit nicht gibt und diese Abstraktion erst im Bezug auf irgendetwas eine Bedeutung erhält.

Mit einer weiteren gedanklichen Anstrengung können wir folgend daraus schließen, dass so was wie "Mensch" oder "Computer" auch nur sprachliche und an sich substanzlose Abstraktionen sind. Auch eine konkretisierende Beschreibung wie "mein alter Rechner im Arbeitszimmer" beinhaltet nicht den grundlegenden Entwicklungsaspekt dieses Phänomens. Auch wenn er ein Teil seiner Existenz relativ unverändert bleibt, ist er irgendwie entstanden und wird irgendwie zerfallen. In diesen Stadien wird seine Bezeichnung immer irrelevanter. Wenn ich in meiner tiefen Forschungshingabe dieses Objekt zerstückele und in alle Himmelsrichtungen streue, werde ich feststellen müssen, dass das Wort "Computer" einfach nicht mehr funktioniert. Das Phänomen muss ab jetzt mit anderen Worten beschrieben werden.

Diese begrenzte Anpassung der Sprache selbst an den ihr verwandten 3-D Raum illustriert sehr gut auch die Einschränkungen unserer Sinneswahrnehmung. Ähnlichkeit zwischen den Beiden besteht darin, dass sowohl unser Hirn als auch unsere Sprache bestimmte Teile der Prozesse ausschneiden, abkapseln und sie als Dinge bzw. Worte darstellen.

Warum sehen wir Vorgänge als isolierte Dinge und die Welt als einen mit Dingen gefüllten Raum? Mann könnte sagen, das ist eine Frage der Geschwindigkeit. Pioniere des Kino haben den Zaubersprung aus der Welt getrennter Bilder in die fließende Welt der Bewegung buchstäblich mit ihren Händen gefertigt. Dafür haben sie den Hebel schneller als 26 Bilder pro Sekunde gekurbelt. Wenn unsere Wahrnehmung auch mit einer höheren Geschwindigkeit, mit einer höheren Intensität also, funktioniert, dann beginnen sich Dinge in Prozesse zu verwandeln. Virtuelle Unterscheidung von Objekten und Handlungen wird gegenstandslos, Raumzeit lässt nach und wird allmählich durch ein grenzenloses Gewebe von Vorgängen und Zusammenhängen abgelöst.

Das tägliche vom Gehirn dominierte Bewusstsein ist aber viel langsamer und sieht dementsprechend Prozessteile als Dinge, als voneinander getrennte Objekte. Auch wenn ein Kinoprojektor langsamer als 26 Bilder pro Sekunde läuft, sieht man keine fließende Bewegung mehr, sondern eine Menge einzelner Bilder.

Es ist bemerkenswert, dass die Teilchenphysik als erste Wissenschaft damit begonnen hat, nicht in Objekten und Handlungen zu denken, sondern subatomare "Teilchen" - ungeachtet dieser irreführenden Bezeichnung - als Prozesse, als Vorgänge zu begreifen. "Ein Atom kann nicht als kleines Planetensystem beschrieben werden. - sagt dazu Atomphysiker Fritjof Capra, - Wir dürfen uns keine um den Kern kreisende Teilchen vorstellen, sondern Wahrscheinlichkeitswellen. Die Teilchen erscheinen dann als dynamische Strukturen oder Prozesse, die eine bestimmte Energiemenge mit sich bringen, die uns als ihre Masse erscheint."

Hirneigene Tele- und Mikroskopen

3-D Raum ist kein Platz. Er ist ein Regelkonstrukt und eine Beschränkung zugleich. Zu den wichtigsten seiner Regeln gehört Festigkeit, Undurchdringlichkeit seiner Phänomene. Damit meine ich eine einfache raumzeitliche Tatsache, dass dorthin, wo Sie jetzt sitzen, kann ihre Schwiegermutter nicht gleichzeitig hineinpassen, auch wenn Sie gar keine haben. Denn Sie nehmen einen bestimmten Raum weg. Derartige Beschaffenheit des 3-D Raumes beschränkt seine Aufnahmefähigkeit und impliziert unter anderem unsere unentbehrliche Wahrnehmungslösung "optische Perspektive".

Diese Fähigkeit, Perspektive zu bilden, ist fundamental für unsere Existenz. Weil das menschliche Bewusstsein dazu verdammt ist, fortlaufend wahrzunehmen und im gewissen Sinne mit der Wahrnehmung sogar identisch ist, verfügt unser Gehirn über eine eingebaute "staulösende" Fertigkeit. Um von der Lawine allesamt Erscheinungen und Abläufen nicht erschlagen zu werden, schrumpft unser Hirn virtuell ihre Größen. Es scheint ein äußerst mannigfaches Linsensystem zu besitzen und bei seinem Gebrauch relativ frei zu agieren.

Von grundlegender Bedeutung ist, dass die beschränkte Aufnahmefähigkeit unseres Sinneskonstruktes "3-D Raum" eine Folge der beschränkten Aufnahmefähigkeit des menschlichen Gehirnes darstellt - und nicht umgekehrt.

Das wie eine Puppille funktionierende Wahrnehmungsfenster ändert die Größen nicht allein materieller Objekte. Sei es eine kulturelle, mentale, emotionale oder zeitliche Entfernung, wir variieren den Umfang aller Manifestationen bis auf eine uns passende Schluckgröße. Bei dieser Perspektivenbildung gehen das Wissen und das subjektive Empfinden beträchtlich auseinander.

Wir wissen zum Beispiel, dass die Problematik schwindender Thunfisch-Population und der daraus resultierenden ökosystematischen Kettenreaktionen sehr wichtig ist und uns auch wirklich betrifft. Wir empfinden aber die Problematik des letzten Spiels unseres Fußballclubs unvergleichlich voluminöser. Eventuell wissen wir, dass ca. eine Million durch NATO-Bombardements und UNO-Sanktionen (während des "Friedens" zwischen den beiden Golfkriegen) umgekommener Iraker 500-mal zahlreicher sind als alle Opfer des elften Septembers. Wir empfinden das trotzdem umgekehrt proportional. Vielleicht wissen wir auch, dass unser zuverlässigster Freund Tod immer auf unserer linken Schulter sitzt. Wir sehen ihn aber verschwindend klein und in weiter Ferne. Oder geht es nur mir so?

Phänomene, die wir in unserem Weltbild als Objekte definieren, behandeln wir ähnlich. Wenn wir einen weglaufenden Dieb beobachten, wissen wir eindeutig, dass er nicht wirklich an Format verliert, - aber wir sehen ihn trotzdem immer kleiner. Übergroße Energien, die wir als titanische Objekte sehen würden, verkleinern wir perspektivisch sehr intensiv. Um einem direkten Kontakt mit solch gewaltigen Energien wie z.B. Sterne oder Galaxien zu entfliehen, verdrängen wir sie an die Peripherie unserer Wahrnehmung. In unserem 3-D Sinneskonstrukt nimmt dies die Form einer räumlichen Entfernung.

Diese Schutzfunktion der Perspektive ist sehr sinnvoll, denn sonst könnten wir allerlei störende und zerstörende Phänomene / Informationen weder innen noch außen unversehrt beobachten.

Bevor ich eine ähnliche Schutzfunktion der Zeit eingehe, möchte ich vorerst ihre grundlegende Subjektivität noch mal verdeutlichen. Und zwar aus dem räumlichen Gesichtspunkt, aus unseren normalen Konventionen, aus der Verständnisebene also, wo der 3-D Raum als eine bewusstseinsunabhängige Realität betrachtet wird.

Selbst wenn wir die Zeit für eine objektive Erscheinung halten, müssen wir einräumen, dass sie nicht nur im einsteinschen Sinne relativ ist. Mit einem stark zunehmenden oder abnehmenden Energievolumen verliert unsere Zeitwertung an Relevanz. Um z.B. eine mittelgroße spiralförmige Galaxie in momentanem Durchblick - mit der Lichtgeschwindigkeit also, unserem Maßstab des Momentanen - zu erfassen, benötigen wir ca. 100 000 Jahre. Das ist für unsere Empfindung keineswegs momentan. Für jedes Elektron unseres Körpers hingegen sind wir zeitfreie Götter mit stehenden Uhren. Auch Millionen seiner Umdrehungen haben aus unserer Sicht keine wahrnehmbare Dauer, sie sind unendlich viel kürzer als "momentan".

Die Welt des unvorstellbar Großen ist auch die Welt des unglaublich Langsamen. Die atomare und subatomare Realität ist dagegen schwindelerregend schnell. Der Energiegehalt ist der Zeitgeschwindigkeit umgekehrt proportional: Je größer die Energie, desto "langsamer" die Zeit - und spiegelbildlich, je kleiner die Energie, desto "schneller" die Zeit.

Die grundlegende Subjektivität der Zeit ist eine witzige Sache. Wir wissen, dass wir nie die Gegenwart, sondern immer nur die Geschichte sehen und hören - bedingt durch die Licht-, Schall-, und Hirngeschwindigkeiten. Und diese multiple Vergangenheit ist unsere Gegenwart, von nanosekundenfrischer Vergangenheit dieses Buches über die stets um acht Minuten inaktuelle Sonne bis zu einer noch vor der Entstehung unseres Sonnensystems verschwundenen Galaxie, das wir weiterhin unberührt am Firmament beobachten. Alle diese vergangenen Realitäten präsentiert unser Gehirn als den gegenwärtigen Augenblick.

Der Sinn der Zeit

Jeder kennt diese faszinierenden Fotos der Großstädte by night, mit den Lichtlinien, ja ganzen Lichtfluten der Tausenden von Autos... Wie entstehen solche Bilder? Durch eine verlängerte Aufnahme oder anders gesagt, durch ein zeitlich vergrößertes Wahrnehmungsfenster. Es werden größere als gewöhnlich Teile der Prozesse "auf einen Blick" erfasst. Wie sieht denn eine Uhr in einem tagelangen Wahrnehmungsfenster? Als ein Zifferblatt mit zwei halbdurchsichtigen Scheiben in der Mitte, woraus sich keine Zeit ablesen lässt. Und ein Mensch? Als eine mehrere Kilometer lange dreidimensionale, im Querschnitt menschenartige Linie. Ihre Grenzen sind verwischt, denn dieser Organismus sich in ständigem Materienaustausch mit der Außenwelt befindet.

In einem tausendfach größeren Wahrnehmungsfenster würden wir auch "stabile", "tote" Objekte, wie etwa diesen Tisch, als lange Knoten, als Kreuzungen vieler Prozesse ihrer Zusammensetzung und Zerfalls sehen. Die in die Linie "Tisch" herein fließende Linien "Holz", "Metall", "Plastik" setzen sich ihrerseits aus mehreren Strömungen zusammen. Alle Zerfallprozesse am anderen Ende der Bündelung "Tisch" dividieren sich genauso unendlich auseinander. In Wirklichkeit gibt es gar keine Grenze zwischen diesem Tisch, Bäumen, aus deren er stammt und den Mikroorganismen, die ihn auffressen. Es gibt nur ein grenzenloses Netz von unzähligen Vorgängen, die fortwährend ineinander und auseinander fließen...

Es ist unverkennbar, dass wir in einer so aussehenden Welt mental sofort untergehen würden. Eine simple Zigarettenschachtel würde uns komplett durcheinander bringen.

Unser Gehirn ist eine wunderbare Maschine, unvergleichlich besser als alle PC's und Supercomputer der Welt zusammen genommen. Aber seine Kapazität ist begrenzt. Sagen Sie Ihrem PC: Berechne mir alle Muskelbewegungen meiner scrollenden Hand - und der Computer wird sich aufhängen, weil diese Aufgabe seine Möglichkeiten sprengt. Sagen Sie ihrem Gehirn: Sehe diese Zigarettenschachtel als ein Netz von Entstehungs- und Zerfallprozessen und Materieaustausch mit benachbarten Netzen wie Pflanzen, Menschen, Atmosphäre etc." - und ihr Gehirn wird auch abrauchen. Man muss sich nur vergegenwärtigen, welch ungeheuere Menge an Information in allen so elementaren Prozessen steckt. Es ist uns schlicht nicht möglich, all diese Terabite-schweren Rauchwolken zu verarbeiten.

Um uns in diesem Netz-Ozean der Realität vor sofortigem Versinken zu retten, ist unser Gehirn genialerweise so vorprogrammiert, dass wir diesen überdimensionalen "Chaos" einfach nicht sehen können. Wie ein Pferd durch die Scheuklappen, so wird auch unser Hirn durch sein kleines Wahrnehmungsfenster von der kolossalen und zerdrückenden Informationsmenge abgeschirmt. Infolgedessen betrachten wir so winzige Netzabschnitte, dass wir sie sogar als separat voneinander existierende "Dinge" virtuell erfassen können.

Und dies hat um Gottes Willen nicht nur Nachteile. Unser riesengroßer Vorteil besteht darin, dass wir diese zerlegte und zerstückelte Realität überaus präzise wahrnehmen. Wir erforschen sie zwar durch ein enges Wahrnehmungsfenster, dafür aber umso gründlicher. Step by step, in der Zeit-Lupe. Wir sind zweibeinige Wahrnehmungsmikroskope. Mit einem Mikroskop sieht man die Sterne nicht, und ein Gehirn ist gleichermaßen für das direkte, ganzheitliche und zeitfreie Erfassen von Phänomenprozessen ungeeignet. Jedes Gerät hat eben seinen eigenen Einsatzbereich.

Nun stellt sich folgende Frage: wie kann man die Zeit überhaupt begreifen, wenn sie den eigentlichen Rahmen nicht nur für alle menschlichen Begriffe, sondern auch selbst für die Wahrnehmung bildet? Ähnelt dies nicht dem Versuch eines Fisches, sich den Ozean aus der Vogelperspektive vorzustellen?

In der Tat, dafür muss man vorerst eigene mentale Umwelt aufgeben. Das ist überaus schwierig, aber dieses Abenteuer lohnt sich. Also werden wir mutige und intellektuell entschlossene Fische! Gönnen wir uns ab und zu einen kleinen Flug über die Gewässer unseres Weltbildes...

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