Legende vom Zeitpfeil

Once upon a time in der Schule beobachteten wir Kinder, wie Eisenpulver im Feld eines Magnets bestimmte geometrische Muster bildet. Als sich Metallpartikel plötzlich entlang der Linien des Magnetfeldes ordneten, schlossen wir legitim daraus, dass eine unsichtbare Struktur, die jetzt mit der Materie gefüllt wurde, bereits davor real existent war. Das Unsichtbare verkörperte sich.

Wir erschaffen unsere Gegenwart auf ähnliche Art und Weise. Die Materie "füllt" unsichtbare Kraftlinien der Zukunft, und durch eben diese Materialisierung wird die Zukunft zur Gegenwart. Ohne eine vorhandene infoenergetische Struktur kann gar keine geordnete Gegenwart entstehen. Und ohne bestimmte Intensität dieses Musters können wir sie nicht als materielle Wirklichkeit wahrnehmen.

Das Wort "Entwicklung" ist mein Zeuge. Es beweist tiefe ursprüngliche Weisheit der Sprache. Ich habe es in fünf Sprachen verglichen, es scheint etymologisch immer auf dieselbe Weise konstruiert zu sein. Prozesse ent-wickeln, ent-hüllen, ent-schleiern sich. Es wird etwas sichtbar, was unsichtbar, aber vorhanden war. Es tritt etwas in Erscheinung, was für uns bisher verborgen war. Wie ein Foto, das auch unentwickelt - im Zustand der Zukunft - alle Informationen bereits beinhaltet.

Das Wort "Zukunft" bringt die ganze Sache wunderbar auf den Punkt. Zukunft ist etwas, was auf uns zukommt. Wir schwimmen nicht "mit der Zeit" in die Zukunft, wir schwimmen letztlich nirgendwohin. Wir nehmen nur wahr - das, was auf uns zukommt. Die Zukunft.

Im Grunde definieren wir die Zukunft eben dadurch, dass es dort noch keine Materie gibt. Streng genommen, reicht das vollkommen aus, um dem berühmten "Zeitpfeil" jede theoretisch Daseinsberechtigung abzuerkennen. Denn wenn in der Zukunft noch keine Materie gibt, dann gibt es dort auch keine Raumzeit. Keinen Raum und keine Zeit, die Zukunft ist also zeitfrei. Dementsprechend liegt sie, genau wie die Vergangenheit, nicht "vorne" oder "hinten" auf der illusorischen Zeitachse, sondern ganz woanders. Nämlich nirgendwo und nirgendwann, außerhalb dieser Begriffe. Wenn aber weder Vergangenheit noch die Zukunft der "Zeitlinie" angehören und die Gegenwart bekanntlich keine Dauer hat, dann gibt es sie einfach nicht, eine lineare "bepfeilte" Zeit.

Das komplette historische Material stellt eine vergangene Zukunft dar. Sollte die Geschichte nicht aus diesem Blickwinkel analysiert werden, um Ziel-Ursachen herauszufinden?

Ich persönlich sehe in dieser Aufgabestellung folgende Probleme. Erstens: Im Unterschied zu Laborbedingungen, wo möglichst viele Störfaktoren ausgeschaltet werden (sollten), können wir unsere vergangene Zukunft nicht mehr manipulieren. Zweitens: Der Name aller Begleiterscheinungen ist Legion, und sie sind in überwiegender Masse bezüglich ihrer Ursprünge, Substanzen und Lebenssphären kaum miteinander vergleichbar. Wir sind keineswegs im Stande, diese unübersehbare Vielzahl zu umfassen, zu ermessen und zu standardisieren.

Infolge dessen sind wir prinzipiell nicht in der Lage zu beweisen, dass geschichtlicher Zustand B aus dem früheren Zustand A ausreichend determiniert gewesen wäre. Mit der contrachronologischen Kausalität aus einen späterem Zustand C ist die Beweisführung genauso komplex. Wir können nicht mal mit ruhigem Gewissen behaupten, Zustände A und C zusammen würden den geschichtlichen Zustand B restlos determinieren. Wir können diesen Ursachengewicht einfach nicht messen!

Andererseits denke ich, die zum Prinzip erhobene wissenschaftliche Gewohnheit, nach keinen weiteren Erklärungen zu suchen, wenn eine bereits gut "funktioniert", ist zweischneidig. Zweifellos sparsam, macht sie aber eine allgemeine Zufriedenheit mit den Forschungsergebnissen quasi zum Maß derer Qualität. Im Sinne der Zufriedenheit scheint auch die konventionelle Ursachenfindung ausreichend zu "funktionieren".

Vorhersagen im Nachhinein

In den 80-ern habe ich Geschichte studiert, damals noch in der Sowjetunion. In meiner Diplomarbeit verglich ich Entwicklungen einiger alten und neuen autoritären Staaten sowie ihrer Wirtschaftssysteme und kam unter Anderem zum Schluss, dass die Sowjetunion zerfallen und untergehen wird. Nun, im Lande tobte damals die Perestrojka und ich habe mit dieser parawissenschaftlichen Dreistigkeit höchstens den Rausschmiss aus der Uni riskiert. Nicht den Knast, was meinem Onkel Vitali noch in den 60-ern für eine deutlich mildere Polit-Prognose widerfuhr. Mich und meine jugendlich radikale Diplomarbeit rettete allerdings nicht die geballte Beweiskraft der Argumentation, sondern meine wissenschaftliche Leiterin, ein kultivierter Freigeist und - in meinem Falle wohl entscheidender - die Ehefrau des Uni-Rektors.

Interessant an dieser Geschichte war eigentlich die Fortsetzung. Drei Jahre später zerfiel tatsächlich die Sowjetunion samt ihrer Wirtschaftsystem, was mich genauso überraschte wie alle anderen internen wie externen Beobachter, inklusive CIA mit all ihren Ostblock-Experten. Man hat mir vorgeschlagen, meine Diplomarbeit prompt in eine Doktorarbeit umzuschmieden, da die historische Einmaligkeit einer solch schnellen Bestätigung einer Prognose unbedingt ausgenutzt werden sollte. Ich war aber bereits in einem ganz anderen Film, habe meinen Job an der Uni gekündigt und ein völlig neues Leben gekostet: den Kapitalismus nicht zum prognostizieren, sondern zum selber kochen. Aber dieses unerwartete Angebot brachte mich erneut zum Nachdenken...

Wie kommt das, grübelte ich, dass eine Menge Leute - Hunderte von Millionen, ja wir alle - sich bereits in einem Absturz befinden und es gar nicht begreifen? Wir wachen eines Morgens auf und die alte Welt ist einfach weg. Wir sind dann vielleicht eine Woche lang fassungslos. In der Zweiten sagen wir aber: eigentlich hat Vieles darauf hingedeutet, dass... In der Dritten erklärt schließlich Jeder, dass es doch absolut klar war, dass es so und nicht anders kommen sollte. Und in der Vierten kaufen wir schon irgendeinen frisch gebackenen Bestseller "Warum der Kollaps unvermeidbar war"...

Ich frage mich, wieso denn als wir noch mittendrin in diesen vergangenen Ursachen saßen, haben wir alle - inklusive den Bestseller-Autor - diese Ursachen als definitiv nicht ausreichend für einen raschen Wandel empfunden? Und warum glauben wir ihm dann so gerne, sie wären doch absolut ausreichend gewesen?

Ein Mann, der sein Portmonee der Helligkeit wegen unter einer Laterne sucht, hat's schwieriger: Es gibt ja nur dieses eine verlorene Portmonee. Der Historiker forscht dagegen im Saus und Braus. Es gibt Tausende von vergangenen Variablen, man muss ihre Rolle nur auf die nötige Größe aufblasen. Dann braucht der Forscher gar keine Zweckursachen mehr, zumindest solange seine Interpretationen für funktionierend gehalten werden.

Sollten wir denn nicht den zufrieden stellenden einseitigen Erklärungen misstrauen und damit anfangen, bewusst Lücken in unsere Konzepte einzubauen? Plätze für Faktore unbekannter Größe freizuhalten?

Die Wahl zwischen unsicherer Suche und sicherer Fehlinterpretation darf nicht an die Annahme gekoppelt werden, wir können und müssen "am Ende" alles geklärt bekommen.

Im Gegenteil, wir sollten davon ausgehen, dass Systeme solchen Ausmaßes, Komplexität und Paradoxie wie die menschliche Geschichte es ist, nur annähernd und oft in sich widersprüchlich interpretiert und verstanden werden können.

Zweckursachen des zweiten Weltkrieges

Ich werde jetzt ein sehr schematisches Zweckursachen-Modell skizzieren, nur um eine teleologische Alternative in der Handhabe des historischen Materials anzudeuten.

Wir sind daran gewohnt, den Fall "Hiroshima & Nagasaki" als eine schreckliche, aber für den Weltkrieg selbst wenig bedeutsame Episode zu bewerten. Na ja, es war schon fast vorbei und dann geschah noch so was Schreckliches... Diese unnötige Grausamkeit wurde dem bereits gewonnenen bzw. verlorenen Krieg in der letzten Minute angeknöpft. Soweit die normale Auffassung der Dinge.

Zu behaupten, der große Krieg sei an die Explosionen von 6. und 9.08.1945 von hinten angeknöpft, ist nicht normal. Uns interessiert aber nicht die Normalität, sondern die Realität. Bezweifeln wir zunächst einmal die Selbstverständlichkeit der Raumzeit-Platzierung dieses Ereignisses. In über vierzig Jahren, seitdem Maria Sklodowska-Curie die zwei unheimlich leuchtenden Metalle in die damalige Wissenschaft herbeizauberte, gab es für einige Länder gute Chancen, zum Bomben-Endspurt anzusetzen.

Selbst in den letzten Jahren vor dem Tag Null stand nach menschlichem Ermessen noch alles offen. Deutschland, Russland und die USA fingen mit der praxisorientierten Forschung mehr oder weniger gleichzeitig an. Jetzt stellen wir uns vor, es hätte geklappt - sagen wir - nur fünf Jahre früher, 1940. Bei Hitler. Oder bei Stalin. Oder bei den Beiden...

Was sind schon fünf Jahre im Vergleich zur Jahrhunderten technischer Entwicklung und Jahrzehnten der Radioaktivitätsforschung? Eine vernachlässigbare Größe? 1941, die ersten zwei Atompilzwolken stehen über Moskau und Berlin...

Tatsächlich geschah es aber erst in der letzten Minute eines praktisch beendeten Krieges. "Aus diesem glücklichen Umstand können wir "- wissen Sie es noch? - "keine großartigen philosophischen oder theologischen Schlussfolgerungen ziehen." Oder etwa doch? Lassen Sie uns zwei kriminologische Weisheiten ins Bewusstsein rufen:

1. Wenn es in einer wichtigen Sache mehr als einen Zufall gibt, dann ist das kein Zufall.
2. Entscheidende Frage ist immer die Frage nach einem Motiv, sie lautet: "Wozu?"

Stellen wir uns einmal diese interessante Frage: Wozu der grausame Krieg? Wir haben tausendmal gehört, wie es dazu kam. Aber wozu überhaupt? Nicht "Wozu hat Hitler den Krieg begonnen?" oder "Wozu wurde Deutschland in Versailler in die Enge getrieben?" oder "Wozu baute Stalin in den dreißiger 20 Tausend Panzer?" Sondern - wozu hat die Menschheit vor sechzig Jahren diesen Krieg erlebt?

Bevor wir jetzt ein kurzes Zweckursachen-Modell des 20. Jahrhunderts entwerfen, billigen wir uns einen Blick aus der historischen Vogelperspektive.

Das Jahr 1945 teilte mehr als nur ein Jahrzehnt und ein Jahrhundert in zwei Hälften. Es zerschnitt die gesamte menschliche Geschichte. Zurückgeblieben war unsere turbulente Kindheit, als wir noch keine Verantwortung für das eigene Überleben und das des Planeten trugen. 1945 stand die Menschheit an der Schwelle einer absolut neuen Ära, einer Ära totaler Selbstvernichtungsmöglichkeit. Das nukleare Zeitalter verdichtete sich bis zur Erscheinungsgrenze…

In den darauf folgenden Jahrzehnten wurden nuklear ausgerüstete Nationen in einer Patt-Situation beengt. Frage: WOZU? Antwort: Um einen normalerweise automatisch aus starker Feindschaft resultierenden Krieg dauerhaft zu hemmen.

Verwenden wir diese Patt-Konstellation als Ausgangsbasis für unser einspuriges Modell "20. Jahrhundert". Für die Friedenspause namens "Kalter Krieg" war folgende contrachronologische Ursachenkette notwendig:

  • Bewusstwerden der totalen Vernichtungsmöglichkeit
    dafür notwendig >>>
  • Dauerhaftes Erleben der Risiken
    dafür notwendig >>>
  • Stabilität der Gefahr
    dafür notwendig >>>
  • Intensive und zugleich einfach strukturierte Feindschaft
    dafür notwendig >>>
  • Gleichgewicht der Bedrohung
    dafür notwendig >>>
  • Eine neue bipolare gegnerische Weltordnung
    dafür notwendig >>>
  • Umordnung militärisch relevanten Staaten in zwei politische Lager
    dafür notwendig >>>
  • Unterordnung militärisch relevanten Staaten zwei Führungsländern
    dafür notwendig >>>
  • Kriegerische Niederlage aller Gegenspieler
    dafür notwendig >>>
  • Vornuklearer Weltkrieg

Diese Ursachenkette führt uns also zurück in den Krieg. Vornuklearer Weltkrieg als globale Umstrukturierung, als Zweiteiler, als Balance-Macher. Diese größtmögliche Vereinfachung der Gefahrenstruktur hätte wahrscheinlich auch gut funktioniert, wenn in Eurasien nicht Stalin, sondern Hitler Oberhand gewonnen hätte. Dann hätte der Kalte Krieg "Freie Welt contra Nazismus" geheißen.

Vornuklearer Weltkrieg war aus der Zweck-Perspektive auch eine Art präventiver Schock-Therapie für die Menschheit. Das war kein Zufall, dass wir die todgefährliche nukleare Ära kriegsmüde und ausgeblutet betraten. Dazu noch wurde uns mit aller Anschaulichkeit das Zerstörungspotential der Kernwaffe vorgezeigt, durch einen "minimalen" Einsatz ganz am Ende des Krieges, wo weitere Einsätze schlicht unnötig waren.

Ich halte es auch für nicht zufällig, dass mein Volk, die Russen, damals derart traumatische Kriegserlebnisse, Verluste und Wirtschaftsschäden erlitten. Die Sowjetunion, der aggressivere und unberechenbarere der beiden künftigen Zweikämpfer hatte sich bekanntlich relativ schwache politische Kontrollmechanismen gegönnt. Mentale Bremse zeigte dagegen ihre Wirkung über Jahrzehnte hindurch.

Die oben entworfene Ursachenkette stellt ein denkbar einfaches Modell stattgefundener militär-politischen Entwicklung dar. Alle anderen Faktoren: kulturelle, ethnische, wirtschaftliche, religiöse, psychologische oder ökologische wurden hier vorsätzlich ausgeblendet. Mir ging es hier weniger um eine historische Erforschung als um ein Beispiel contrachronologischer Erwägung der Ziel-Ursachen.

Diese Modell-Antriebskette hält uns fortdauernd auf der Oberfläche einer Treppe greifbarer Phänomene. Es ist wichtig, diese Modellierungsart von der Untersuchung einzelner reifenden, sich materialisierenden Phänomene abgesondert zu gebrauchen.

Als Exempel dafür und als Nachtisch zugleich - folgende Geschichte.

Schatten der Titanic

Morgan Robertsons Roman über den Untergang der Titanic beinhaltet einige technische Ungenauigkeiten, wie z.B. Schiffslänge von 270 Metern anstatt faktischen 251 oder Geschwindigkeit von 25 anstatt tatsächlichen 22 Knoten... Auch das verhängnisvolle Fehlen von Rettungsbooten ist übertrieben: nicht die realen 24, sondern lediglich 20 Boote gibt der Autor an. Kurioserweise nennt Robertson den angeblich unsinkbaren Ozeanriesen abgekürzt - "Titan". Alles künstlerische Freiheit? Mag wohl sein, besonders in Hinblick auf die Tatsache, dass der Roman "The Wreck of the Titan" vierzehn Jahre vor dem Unglück, 1898 veröffentlicht worden war.

Ich würde aber nicht auf künstlerische Frechheit tippen, sondern eher auf eine etwas unpräzise Wahrnehmung des wachsenden Ereignisses, was bei der Intensitätsentfernung von - zeitlich gemessen - 14 Jahren ohnehin eine Ausnahmeleistung darstellt.

Wahrscheinlich lag es auch am reifenden Phänomen selbst. Der Schriftsteller hat die Katastrophe in einem feineren, zeitlich formuliert - früheren Zustand erlebt. Und in dieser Phase ihrer Entwicklung war die Katastrophe noch gigantischer als in ihrer raumzeitlichen Verdichtung.

Grosse Ereignisse werfen Schatten voraus, sagt man. Haben Sie eigentlich bemerkt, dass dieses "voraus" ausdrücklich contrachronologische Richtung impliziert? Voraus - und das bedeutet: aus der Zukunft in die Gegenwart, unserem gewöhnlichen Zeit-Empfinden also diametral entgegengesetzt.

Der Spruch hat einen hohen Wahrheitsgehalt. Intensivierung oder "Zu-Kunft aus der Zukunft" ist der Kurs aller Entwicklung. Das Phänomen Sprache schneidet noch mal gut ab. Gar nicht übel für eine gefrorene Realität.

 

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