Unsprechbar ist unsichtbar

Nicht nur die Wissenschaft bedient sich der altbewährten Methode der Naturvölker, die bedrohliche Unfassbarkeit der Natur durch das Benennen der Kräfte virtuell zu strukturieren, vertrauter erscheinen zu lassen, semantisch auszutauschen. Die ganze menschliche Sprache als solche ist ein totaler Ersatz, ein "Megaeskimo". Wir halten sie zwar für ein getreues Abbild der Realität. In der Tat ist sie aber eine eigenständige parallele Wirklichkeit. Ich werde irgendwann später sagen, die Sprache sei eine gefrorene Realität, doch dies reicht nicht aus: In erster Linie ist sie eine erfundene Realität.

Der Realitätsersatz Sprache erzeugt in uns das überlebenswichtige Gefühl, die Welt zu kennen und zu verstehen. Vertraute Sprachbegriffe - stellvertretend für reale Erscheinungen - kreisen uns um. Durch das Benennen ersetzen wir zwar weitgehend das Verstehen der Phänomene, legitimieren aber zumindest ihre Existenz in unserer Denkensart, erteilen denen sozusagen eine befristete Aufenthaltsgenehmigung fürs Großhirn.

Die Alternative ist das bloße Nicht-Benennen und es ist überaus wirkungsvoll. Es schafft alles Unbenannte schlichtweg aus dem Weltbild, macht Phänomene kaum wahrnehmbar und oft auch wachstumsunfähig. Wenn es in der deutschen Sprache kein Wort für - sagen wir - "wu-wej" gibt, dann kann sich wu-wej in unserer Ecke wohl nur mäßig verbreiten.

Wenn wir die sechs Sanskrit-Worte für unterschiedliche Bewusstseinszustände mit jeweils drei Sätzen übersetzen müssen, können wir dann in diesen Begriffen auch denken? Nein, das ist wie russische Witze erzählen, dreifache Arbeit mit dezimiertem Sinn. Man trägt den Witz vor, lacht kurz und einsam, dann erklärt man mühevoll, warum der Witz so lustig war, beantwortet ein paar Fragen, lacht noch mal ermutigend und denkt: "Scheiße...".

Man übersetzt "djihad" hartnäckig als "heiliger Krieg" nicht um für Al-Quaida zu werben. Vielmehr ist es das übliche Problem - die richtige Übersetzung ist entweder lang oder erklärungsbedürftig. Sie ist also kein Begriff, sondern eine Beschreibung. Sie passt in keine Schublade, sie ist unbequem für das Denken.

Man kann sich die Sprache als eine Art Gitternetz vorstellen, als einen Raster, der für unseren Verstand gewisse "magnetische" Eigenschaften aufweist. Der Sprachmuster formt schon in den frühen Stadien des menschlichen Lebens die Gedankenstrukturen und die Wahrnehmungsgewohnheiten. Die kleinen Differenzen zwischen Hochbayerisch und Platt-Sanskrit sind drittrangig im Vergleich mit dieser fundamentalen musterbildenden Wirkung der Sprache auf das Mentale.

Sprache als Weltformel

Die Gesamt-Erscheinung Sprache veranlasst uns dazu, unsere Weltanschauung in weitgehendem Einklang mit der Gesetzmäßigkeiten der Sprache zu gestalten. Das heißt:

  • Phänomenprozesse in Objekte und Handlungen virtuell zu splittern, wie die Sprache das handhabt,
  • Denkmatrix auf dem Prinzip der Linearität aufzubauen, gleichartig mit der Sprachstruktur,
  • Ursachenfindung der chronologischen Kausalität unterordnen, kongruent mit dem Sprachverlauf.

Das Gesamtphänomen Sprache befindet sich in einer intensiven Wechselwirkung und gegenseitigen Durchdringung mit dem menschlichen Verstand. Beide zusammen beschreiben nicht nur unsere "Virturealität", sie bilden das eigentliche Gerüst für unser Wahrnehmungs-Konstrukt namens Raumzeit.

Kreativitätstechniken und andere Beinbrecher

1989 verfasste ich im Auftrag eines Sozial-Psychologischen Zentrums eine Studie über die Kreativitätssteigerungs-Methoden in Forschungsorganisationen. Damals habe ich zum ersten Mal verblüfft festgestellt, dass die effektivsten dieser Techniken keineswegs die Verstand-Mechanismen aktivieren. Im Gegenteil, sie versuchen auf unterschiedlichste Art und Weise den Verstand zu blockieren, auszutricksen und die verrücktesten Ideen aufzufangen. Sei es Brainstorming, Synektik, Reizwortanalyse oder Progressive Abstraktion, es geht im Grunde immer nur darum, die Denkgesetze geschickt zu brechen und möglichst schwere Beute zu machen.

Bemerkenswert finde ich es, dass alle Kreativitätstechniken zwar das ausgefahrene Straßennetz der Verstand verlassen und geländewagenmäßig in die unzugängliche Gebiete vorstoßen, streben dabei aber nicht, sich von der Mutter Sprache abzuheben. Der einzige mir bekannte Versuch, einem Kreativitäts-Jeep Sprachflügel zu verpassen, startete Edward DeBono 1967 mit seinem "Lateralen Denken". Das bedeutet nach DeBono, bewusst "um die Ecke zu denken", unlogisch und unkonventionell. Eine seiner Techniken verwendet das spezielle Wort PO als Einleitung für provokative Denkoperationen. PO signalisiert eine Feststellung außerhalb des Urteilssystems und - brillant - auch abseits der Gesetzmäßigkeiten der Sprache.

PO bezeichnet irgendeine unmögliche Lösung oder Ansicht des Problems, z.B., "PO: Fabriken müssten flussabwärts von sich selbst liegen". Solche mentalen Provokationen können neue und außergewöhnliche Seiten von Problemen beleuchten, indem sie die Suchenden auf kuriose Aspekte der Fragestellung hinweisen. Das laterale Denken bringt vortreffliche Ideen und Problemlösungen, es ist aber im Unterschied zu anderen Techniken nicht lösungsorientiert an sich. Benutzen Sie also für nützliche Zwecke lieber praxisbezogene Methoden: Mindmapping zum Konzipieren eines raschen Geldvermehrens oder Brainstorming zur Legalisierung "antiterroristischer" Flächenbombardements...

Apropos Bombardements: Laut einer Gallup-Umfrage genießen die Streitkräfte weltweit, auch in Deutschland, das höchste Vertrauen der Bevölkerung unter allen Institutionen (!) Nein, diese uneingeschränkte Solidarität ist kein Indiz für den Jammer menschlicher Vernunft, sondern ein Beweis für große Verdienste der Kriegsmaschinerie für die Menschheit. Ich stelle mich auch in die Reihe und rufe: "Dem guten Militär verdanken wir nicht nur die Erfindung des Internets, sondern auch die des Speed Reading!"

Sie haben sicherlich schon mal von dieser Technik des schnellen Lesens gehört, auch "Querlesen" genannt. Es gibt davon mehrere Methoden, die es ermöglichen, die natürliche Grenze von 400 Wörter pro Minute zu brechen und das Doppelte, Dreifache oder Mehr zu erreichen. Angefangen mit alledem hat Royal Air Force während des Ersten Weltkrieges. Sie konzentrierten sich damals auf die Beschleunigung des visuellen Erfassens mit Hilfe von Tachitoskop, einer Sorte Urbeamer. Erst Jahrzehnte später setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Mensch nicht mit den Augen, sondern mit dem Hirn liest. Und dort gibt es gewisse Verständnisvorgänge.

Von den Nuancen abgespeckt, lässt sich die Verständniskette beim Lesen folgendermaßen darstellen: Sehen - subvokalisieren - zuhören - verstehen. Subvokalisation ist das rudimentäre innere Mitsprechen, das aus den Zeiten des Lesenlernens stammt und bei den Erwachsenen als minimale Kehlbewegungen beibehalten bleibt. Obwohl wir die Subvokalisation kaum merken, beschränkt sie unmissverständlich unsere Lesegeschwindigkeit. Daher kommt diese Grenze von etwa 400 Wörter pro Minute - das ist das höchstmögliche Sprechtempo (zumindest für ein Männchen), wo das Gesprochene noch einigermaßen artikuliert und auch verstanden werden kann (wenn es darauf ankommt). Wir verstehen also das Gelesene erst wenn wir uns Alles selbst "zugeflüstert" haben.

Eine der Methoden des schnellen Lesens unterdrückt die Subvokalisation mittels eines speziellen Rhythmus. Später kommt das Ausschalten der zwei mittleren Stationen der Verständniskette und der Direktanschluss "Sehen - Verstehen". Mit der darauf folgenden Blickfeld-Erweiterung ist dann die alte Grenze bereits aufgehoben. Soweit die Theorie.

Im echten Leben beginnt ab hier die interessanteste Phase. Ich habe eine alte Videoaufnahme: Als mein Sohn Victor anderthalb Jahre alt wurde, habe ich aus seinem Kinderbett die Sicherheitsstäbchen entfernt und fing an zu filmen, wie er freudetrunken aus dem ehemaligen "Gefängnis" herausspringen würde... Das Show blieb aus: Er stand händeringend in geöffnetem Bett und eine halbe Stunde lang forderte mich auf, ihn rauszuholen. Er sah zwar das veränderte Bett, aber er wusste bereits zu genau - hier kann er nicht durch, das geht einfach nicht. Es war für mich eine seltene Erfahrung, direkt zu sehen, wie unabhängig die Grenzen im Kopf von den physischen Barrieren existieren.

Speed Reader haben in diesem Stadium also mit einer viel härteren Grenze als die des eigenen Sprechtempos zu tun. Die gemütliche Einbahnstrasse des Denkens und die kolossalen Sprachsäulen der Weltanschauung sollen ab jetzt ignoriert werden. Ganzer auf chaotische wird Textblöcken Sprachgesetze eklatanter als die gegen ein empfunden Blick Verstoß nichtlineare die zunächst Aufnahme einen. Mit denselben Worten, die nichtlineare chaotische Aufnahme ganzer Textblöcken auf einen Blick wird zunächst als ein eklatanter Verstoß gegen die Sprachgesetze empfunden. Der Verstand weigert sich, die Informationen in einer "falschen" Reihenfolge als Informationen anzuerkennen.

Das schnelle Lesen ist ein relativ intensiver Bewusstseinszustand. Ich habe Menschen erlebt, die schon im Vorzimmer in Panik gerieten, und Menschen, die dadurch massive befreiende außerzeitliche Erfahrungen gesammelt haben. Pro oder Contra scheint davon abhängig zu sein, wie stark sich die Betroffenen über ihren eigenen Verstand definieren. Auf jeden Fall beansprucht die Intensität des ausgeweiteten Wahrnehmungsfensters eine hohe Energie-Investition. Das allein reicht übrigens aus, um den Siegeszug dieser vielversprechenden Technik zu zügeln.

Außerdem läuft man beim Abheben von der Mutter Sprache immer das Risiko ein, zu erfahren, dass sie nicht die einzige tragende Realität ist. Ab gewisser Geschwindigkeit und Höhe - sogar, das der Planet des Denkens selbst ein kleines dynamisches Element eines unermesslich komplexeren Systems darstellt. Für viele Menschen könnte dies einen bösen Zusammenbruch ihres Weltbildes bedeuten.

 

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